Im ersten theologischen Schwerpunktbeitrag zeigt Holger Zaborowski, dass der klassische Wahrheitsbegriff, als Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit, philosophisch keineswegs selbstverständlich ist. Er zeichnet nach, wie Menschen zwischen Wirklichem und Unwirklichem unterscheiden, wie aber radikale Zweifel am Wirklichkeitsbegriff in der Moderne zu Verunsicherung führen. Eine tragfähige Gewissheit lasse sich, so Zaborowski, nicht allein durch Denken gewinnen, sondern ergebe sich erst in der Begegnung mit dem „Anderen“: mit Mitmenschen, der Welt und Gott. Diese Begegnungen stiften eine moralisch begründete Gewissheit darüber, dass Wirklichkeit überhaupt erfahrbar ist.
Ralf Rothenbusch widmet sich dem Wahrheitsanspruch der Bibel. Ausgehend von Dei Verbum erläutert er, dass die Bibel nicht als naturwissenschaftliches oder historisches Sachbuch verstanden werden darf, sondern als literarisches Zeugnis der Selbstoffenbarung Gottes. Ihre Wahrheit zielt auf „unser Heil“ und eröffnet sich in einem fortwährenden Auslegungsprozess, der den literarischen Charakter der Texte, ihre geschichtliche Entstehung und ihre Kanonisierung berücksichtigt. Rothenbusch betont, dass Inspiration nicht wörtliche Diktation meint, sondern ein Zusammenspiel von göttlicher Offenbarung und menschlicher Autorschaft. Wahrheit entsteht daher in der Interaktion von Literalsinn, kanonischer Auslegung und der inspirierten Lesergemeinschaft, die die Texte immer wieder neu auf Gegenwartsbedeutung hin erschließt.
Michael Seewald beschreibt die Wandelbarkeit der Glaubenslehre, ohne dass dadurch die Wahrheit des Glaubens verloren geht. Er unterscheidet zwischen dem Evangelium selbst und dem Dogma, das die Inhalte des Glaubens in Lehraussagen formuliert. Diese Lehraussagen können sich im Laufe der Kirchengeschichte verändern, korrigiert oder präzisiert werden. Die Wahrheit des Glaubens bleibt dennoch bestehen, weil sie nicht identisch ist mit einzelnen Formulierungen, sondern sich in einem lebendigen Auslegungsprozess zeigt.
Im Gespräch mit Patrick Roth wird ein literarischer Zugang zur Wahrheit eröffnet: Roth versteht Wahrheit als dynamische Erfahrung, die im Dialog des bewussten Ich mit dem Unbewussten entsteht – besonders in Träumen. So wird deutlich, dass Wahrheit auch eine existentielle, persönliche Dimension besitzt, die nicht in feststehenden Aussagen aufgeht.
Rudolf Englert fragt, wie im heutigen Religionsunterricht überhaupt noch sinnvoll über Wahrheit gesprochen werden kann. Er zeigt, dass religiöser Glaube heute als „Option“ verstanden werden muss – als begründete, aber nicht zwingende Entscheidung. Daraus ergibt sich sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit, den Glauben immer wieder kritisch auf seine Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Wahrheit erscheint damit als etwas, das in biografischen Prozessen gesucht, geprüft und verantwortet werden muss.
Andreas Büsch beleuchtet die Herausforderung von Lüge, Halb- und Unwahrheiten im Netz. Er erklärt, wie Falschinformationen entstehen, welche psychologischen Mechanismen dahinterstehen und welche Kriterien Jugendliche erlernen müssen, um digitale Inhalte kritisch zu beurteilen. Der Religionsunterricht soll hier auch ethische Dimensionen thematisieren – insbesondere die Verantwortung gegenüber der Wahrheit und die Wahrung der Menschenwürde.
Der Praxisteil des Hefts enthält zahlreiche konkrete Unterrichtsimpulse: eine Unterrichtsreihe zu „Des Kaisers neuen Kleidern“ für die Grundschule, Überlegungen zu biografischem Erzählen in Social Media, zur Arbeit mit Legenden und zur Frage nach Wahrheit in der Oberstufe, etwa im Umgang mit Datenmengen oder anhand ausgewählter Kinder- und Jugendbücher. Die Beiträge zeigen, wie vielfältig und altersgemäß die Wahrheitsfrage im schulischen Religionsunterricht aufgegriffen werden kann – sei es moralisch, biblisch, medienkritisch oder philosophisch.
Insgesamt macht das Heft deutlich, dass Wahrheit ein vielstimmiger, aber unverzichtbarer Orientierungsbegriff bleibt. Der Religionsunterricht erhält die Aufgabe, jungen Menschen Wege aufzuzeigen, wie sie zwischen Tatsachen, Deutungen, Überzeugungen und Täuschungen unterscheiden können – und wie sie verantwortete Wahrheitsansprüche für ihr eigenes Leben entwickeln.