„Der Bibelmythos – Zwischen Glauben, Geschichte und Interpretation“
I. Einführung (10 Min.) – Provokante Fragen & Erwartungshorizont
Einstieg mit einer provokativen These an der Tafel:
„Die Bibel ist voller Irrtümer.“
Schüler:innen positionieren sich (z. B. per Aufstellen im Raum: Stimme zu / stimme nicht zu / unentschlossen).
Kurze Austauschrunde: Warum diese Position?
Lehrkraft leitet über: „Heute wollen wir untersuchen, ob und wie Mythen in der Bibel Sinn machen – auch wenn sie nicht wörtlich wahr sind.“
II. Diskussion (20 Min.) – Mythenkritik & Bibelauslegung
Lernende lesen in Kleingruppen vier Textauszüge aus „Der Bibelmythos“:
Abendmahl am Mittwoch
Der Jungfrauen-Mythos
Adam und Eva
Kreuzsymbolik
Jede Gruppe beantwortet:
Was wird im Text hinterfragt?
Warum könnte diese „Entmythologisierung“ für Gläubige schwierig, aber auch befreiend sein?
Wie verändert sich das Bild von Gott oder Jesus?
Kurze Plenumsdiskussion: Wie gehen Wissenschaft und Glaube unterschiedlich mit der Bibel um?
Antizipierte Ergebnisse:
1. Abendmahl am Mittwoch
Was wird im Text hinterfragt?
Die traditionelle Vorstellung, dass das letzte Abendmahl Jesu an einem Donnerstag (Gründonnerstag) stattfand. Wissenschaftliche Untersuchungen (z. B. von Colin Humphrey) deuten darauf hin, dass es möglicherweise an einem Mittwoch war – abhängig vom jüdischen statt dem römischen Kalender.
Warum könnte das für Gläubige schwierig oder befreiend sein?
Schwierig: Es stellt vertraute liturgische Traditionen infrage, die zentral im Kirchenjahr verankert sind (Gründonnerstag, Karfreitag).
Befreiend: Es zeigt, dass die Bibel kein starres Geschichtsbuch ist, sondern ein lebendiges Zeugnis von Glaubenserfahrungen. Der genaue Wochentag ist weniger wichtig als die Bedeutung des Abendmahls als Zeichen der Gemeinschaft.
Wie verändert sich das Bild von Gott oder Jesus?
Jesus erscheint weniger als Figur eines exakt rekonstruierbaren Geschichtsablaufs, sondern als Verkörperung einer bleibenden spirituellen Botschaft. Das Ritual zählt mehr als der Kalender.
2. Der Jungfrauen-Mythos
Was wird im Text hinterfragt?
Die Vorstellung, dass Maria biologisch „Jungfrau“ war. Der Text erklärt, dass im hebräischen Original nur von einer „jungen Frau“ („alma“) die Rede ist und erst die griechische Übersetzung („parthenos“) den Jungfrauen-Gedanken hineinbrachte.
Warum könnte das für Gläubige schwierig oder befreiend sein?
Schwierig: Die Jungfrauengeburt ist zentral für das christliche Glaubensbekenntnis – sie symbolisiert Jesu göttliche Herkunft. Eine Infragestellung kann als Angriff auf diese Glaubenswahrheit empfunden werden.
Befreiend: Sie ermöglicht, den Fokus von biologischen Fragen auf die theologische Bedeutung zu lenken – Maria als Symbol für Vertrauen, Hingabe und göttliche Erwählung.
Wie verändert sich das Bild von Gott oder Jesus?
Jesus wird weniger als „Wunderwesen“ zwischen Himmel und Erde gesehen, sondern als Mensch, in dem sich Gottes Geist zeigt. Das betont seine Menschlichkeit und Nähe.
3. Adam und Eva
Was wird im Text hinterfragt?
Dass Adam und Eva reale erste Menschen waren. Im Hebräischen bedeuten die Namen lediglich „Mensch“ (adam) und „Leben“ (chawwa). Die Geschichte wird als Symbol für das Menschsein, Freiheit, Schuld und Verantwortung verstanden – nicht als Biologieunterricht.
Warum könnte das für Gläubige schwierig oder befreiend sein?
Schwierig: Viele traditionelle Schöpfungsvorstellungen (und auch die Erbsündenlehre) beruhen auf einem wörtlichen Verständnis von Adam und Eva.
Befreiend: Es öffnet den Weg, die Geschichte als tiefe Symbolerzählung über das Menschsein, Versuchung und Selbstbewusstsein zu verstehen – und sie mit moderner Wissenschaft (Evolution) zu versöhnen.
Wie verändert sich das Bild von Gott oder Jesus?
Gott wird weniger als übernatürlicher „Schöpfer-Zauberer“ gesehen, sondern als Schöpfer im geistigen Sinn – der den Menschen Bewusstsein und Verantwortung schenkt. Jesus erscheint als Antwort auf diese menschliche Freiheit und Fehlbarkeit.
4. Kreuzsymbolik
Was wird im Text hinterfragt?
Das Kreuz war ursprünglich kein Symbol des Heils, sondern ein Schandmal, ein Zeichen des grausamen Todes. Erst später wurde es zum Symbol der Verbindung zwischen Gott und den Menschen.
Warum könnte das für Gläubige schwierig oder befreiend sein?
Schwierig: Das Kreuz ist zentrales Symbol des Christentums – wer seine ursprüngliche Bedeutung betont, rührt an Emotionen und Traditionen.
Befreiend: Es zeigt, dass Leid und Scheitern verwandelt werden können – das Schandmal wird zum Zeichen der Erlösung. Der Glaube kann also aus Schmerz Hoffnung schaffen.
Wie verändert sich das Bild von Gott oder Jesus?
Jesus erscheint als der, der das Leiden verwandelt – nicht durch magische Macht, sondern durch Liebe und Hingabe. Gott wird als der verstanden, der in menschliches Leid eintritt und es überwindet.
Plenumsdiskussion: Wie gehen Wissenschaft und Glaube unterschiedlich mit der Bibel um?
Wissenschaft Glaube/Theologie
Analysiert historische Entstehung, Übersetzungsprozesse, sprachliche und kulturelle Kontexte. Sucht die geistliche und existenzielle Bedeutung für den Menschen heute.
Prüft Fakten, Quellen und Widersprüche. Liest die Bibel als Heilsbotschaft, nicht als naturwissenschaftlichen Bericht.
Erkennt die Bibel als Sammlung menschlicher Deutungen von Gotteserfahrungen. Sieht in diesen Deutungen göttliche Inspiration und Wahrheit.
Wahrheit = historisch überprüfbar. Wahrheit = sinnstiftend und lebensrelevant.
Gemeinsamer Nenner: Beide wollen verstehen, wie der Text wirkt und was er über den Menschen und seine Beziehung zu Gott aussagt.
III. Praktische Anwendung (25 Min.) – Bibelmythen kreativ neu erzählen
1. Themen (zur Auswahl oder Zuteilung)
Phänomen / Bibelthema Traditionelle Deutung Neue Aushandlung / Diskussionsfeld
Die Sintflut (Gen 6–9) Strafe Gottes für menschliche Sünde; Reinigung der Erde. Historische Fluterfahrungen im Nahen Osten? Mythos über Neuanfang und Verantwortung für die Schöpfung.
Die Schöpfung in sieben Tagen (Gen 1) Gott schuf alles in sieben Tagen. Symbolische Darstellung kosmischer Ordnung; Dialog mit Evolutionstheorie.
Die Wunder Jesu (z. B. Heilungen, Brotvermehrung) Übernatürliche Machttaten Gottes. Zeichenhandlungen: Ausdruck von Solidarität, Teilen, Heilwerden.
Auferstehung Jesu Körperlich leibliche Auferstehung. Symbol für neues Leben, Hoffnung über den Tod hinaus – nicht nur biologisch.
Die Engelerscheinungen Himmlische Botenwesen. Innere Bilder, Visionen, Symbole göttlicher Nähe und Orientierung.
Hölle und Himmel Orte des ewigen Lohns bzw. der Strafe. Bilder für Lebenshaltungen – Nähe oder Ferne zu Gott im Hier und Jetzt.
2. Arbeitsauftrag für die Gruppen
Auftrag:
„Erarbeitet eine kreative Darstellung eures Bibelphänomens:
Welche traditionelle Bedeutung hatte es?
Wie wird es heute neu verstanden oder hinterfragt?
Was bleibt als spirituelle Wahrheit bestehen?“
Mögliche Umsetzungsformen:
Talkshow: Streitgespräch zwischen „Tradition“ und „Moderne“ (z. B. Evolution vs. Schöpfung).
Instagram-Post-Serie: 3 Bildtafeln mit Hashtags zu alter und neuer Deutung.
Kunstsymbolik: Collage aus Bibelzitaten, Zeitungsschlagzeilen und Symbolbildern.
Kurzpredigt oder Poetry Slam: „Was die Sintflut mir heute sagt“ – 1 Minute Glaube in moderner Sprache.
IV. Präsentation der praktischen Anwendung (15 Min.)
Leitfrage: „Wann beginnt der Glaube zu leben, bei Wundern oder beim Verstehen?“
Theologischer Impuls zur Vertiefung
„Mythen sind keine Lügen, sondern Geschichten, die mehr sagen, als sie behaupten.“
(frei nach Paul Tillich)
Die Lehrkraft betont:
Die Bibel bleibt lebendig, wenn sie gedeutet, diskutiert und in neue Kontexte gestellt wird. Mythen sind Ausdruck der Suche nach Sinn, damals wie heute.
5. Optionale Erweiterung
Lernende suchen ein modernes „Wunder“ (z. B. Heilung, Versöhnung, Naturphänomen) und schreiben eine eigene „Bibelgeschichte von heute“.
Titelvorschlag: „Das Evangelium des 21. Jahrhunderts“.
V. Reflexion und Zusammenfassung (10 Min.)
Leitfragen an die Klasse:
Wie kann man an die Wahrheit der Bibel glauben, wenn vieles nicht wörtlich stimmt?
Welche Funktion haben Mythen heute?
Wie hilft das Verständnis von Exegese, den Glauben tiefer zu verstehen?
Abschließend: Lehrkraft fasst zusammen – „Die Bibel will nicht naturwissenschaftlich erklären, sondern Sinn geben.“
VI. Hausaufgabe (5 Min.)
Schreibe eine halbe Seite:
„Welcher Bibelmythos spricht dich heute besonders an – und warum? Welche Wahrheit erkennst du darin?“
Alternative: Recherche – „Wie erklärt Papst Franziskus den Umgang mit Mythen und Bibelauslegung?“
VII. Abschließende Worte (2 Min.)
„Glaube braucht keine Beweise – aber Verständnis. Wer die Bibel hinterfragt, verliert nicht den Glauben, sondern kann ihn vertiefen.“
VIII. Zusätzliche kreative Ideen
Escape Room „Bibelmythen“: Schüler:innen lösen Rätsel zu Mythen (Adam, Maria, Kreuz), um „den wahren Kern“ zu finden.
Podcast-Projekt: Schüler:innen erstellen Mini-Podcast-Folgen („Mythos oder Wahrheit?“).
Vergleich mit anderen Religionen: Mythen aus Koran oder hinduistischen Schriften – wie werden dort göttliche Wahrheiten vermittelt?
IX. Bibelzitate zur Vertiefung
Joh 20,29: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“
2 Tim 3,16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre.“
Genesis 2,7: „Da formte Gott den Menschen aus Staub und hauchte ihm den Atem des Lebens ein.“
Lk 1,37: „Denn für Gott ist nichts unmöglich.“
1 Kor 1,18: „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.“