Die Scharia ist kein festgeschriebenes Gesetzbuch, sondern ein hochkomplexes System islamischer Normenlehre. Sie umfasst sowohl religiöse Vorschriften wie Gebet oder Fasten als auch rechtliche Regelungen und vor allem die Lehre von den Quellen und Methoden, wie Normen überhaupt gefunden und interpretiert werden. In einem weiten Verständnis kann die Scharia also als Rahmen verstanden werden, um religiöse und rechtliche Normen in Beziehung zueinander zu setzen. Dieses weite Verständnis muss keine Angst machen, da es auch menschenrechtskompatible Interpretationen ermöglicht. Angst entsteht meist durch ein enges Verständnis, das die Scharia auf drakonische Strafen, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern oder nicht-demokratische Herrschaftsformen reduziert.
In der islamischen Welt ist die konkrete Ausgestaltung sehr vielfältig. Während in Saudi-Arabien eine traditionelle Auslegung gilt, nehmen Verfassungen anderer Länder – etwa in Ägypten – nur auf die Prinzipien der Scharia Bezug. Viele islamisch geprägte Staaten haben das klassische Strafrecht längst abgeschafft, manche wie Iran oder Nordnigeria jedoch wieder eingeführt. Vor allem in Bereichen wie Ehe-, Familien- und Erbrecht hat die Scharia bis heute große Bedeutung. In anderen Rechtsbereichen, etwa im Staats- oder Wirtschaftsrecht, wurden hingegen vielfach Elemente aus europäischen Rechtsordnungen übernommen.
Auch im Hinblick auf Frauenrechte zeigt sich diese Spannbreite: Der Koran enthält sowohl Aussagen, die Geschlechterungleichheit nahelegen, als auch solche, die als Auftrag zur fortschreitenden Verbesserung der Stellung von Frauen gedeutet werden können. Moderne Stimmen betonen daher eine dynamische, zeitgemäße Lesart, die nicht nur gleiche Würde, sondern auch gleiche Rechte der Geschlechter fordert. Zwar ist dies nicht die Mehrheitsmeinung, gewinnt aber besonders unter jungen Musliminnen und Muslimen an Gewicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Scharia ein vielgestaltiges und auslegungsbedürftiges System ist. Sie kann sowohl menschenrechtsfreundlich als auch restriktiv interpretiert werden und ist je nach Land, Kontext und Lesart sehr unterschiedlich ausgestaltet.